Meine Staatsbürgerschaft irgendwo in der Mitte von „Unter den Linden“

Anna Vilkova, geboren in St. Petersburg und aktuell Studentin in Berlin, spricht über ihr Verhältnis zur russischen Staatsbürgerschaft.

Der sehr persönliche Bericht besteht aus zwei Teilen. Heute veröffentlichen wir den gesamten Text.

Jeden Tag auf meinem Weg zur Uni überquere ich „Unter den Linden“. Am Ende des Boulevards, näher am Brandenburger Tor, Unter den Linden 50 befindet sich das Otto-Wels-Haus, wo heutzutage Bundestagsabgeordnete ihre Büros haben

Direkt gegenüber liegt die russische Botschaft. “Meine” Botschaft, die Botschaft, neben der seit zwei Jahren ein Memorial für die Opfer des Krieges in der Ukraine steht und zu der zum Gedenken an Alexei Nawalny seit dem 16. Februar täglich Blumen gebracht werden – eine Erinnerung an die Taten “meines” Landes.

An beiden Gebäuden wehen Fahnen an Fahnenmasten: deutsche und russische, genau gegenübereinander. Diese Metapher: einerseits Russland, andererseits Deutschland, beschreibt mein Leben gut.

Mein Haus liegt auf der rechten Seite des Boulevards, auf der “russischen” Seite. Meine Universität befindet sich auf der linken, “deutschen” Seite. Jeden Tag stehe ich mittendrin auf dem Boulevard. Ich gehe zur Universität und überquere die Straße nach links, hinein in mein soziales „deutsches Leben“. Wenn ich nach Hause zurückkomme, gehe ich auf die rechte Seite meines privaten “russischen” Lebens.

Ich stehe dazwischen und es geht um diese Wahl. Diese Wahl, die ich immer wieder in meinem Leben vollziehen sollte. Wenn man etwas wählt, etwas bevorzugt, dann mindert man das andere.

Bei der Passkontrolle oder beim Arzt antworte ich selbstbewusst: „Ich komme aus Russland.“ Das steht auf meinem Reisepass. Aber das stimmt nicht. Die Frage, wohin ich gehöre, wird nicht durch 8 Buchstaben auf dem Papier bestimmt.

Da ich nicht in Russland bin und fast seit 3 Jahren dort nicht mehr lebe, fühle ich mich nicht als Teil dieses Landes und dieser Gesellschaft. Ich will auch nicht zu diesem Land mit seinem Regime gehören. Ich habe mich verändert, Russland hat sich verändert. Russland ist eine völlig andere Welt geworden, in der es für mich keinen Platz mehr gibt. Ich frage mich, wohin ich gehöre? Zu welcher Stadt? Was ist dann jetzt meine Staatsangehörigkeit? Was ist eine Staatsangehörigkeit überhaupt?

Wenn man Staatsbürgerschaft als einen praktischen Gegenstand ansehen würde, dann wäre meine Antwort sehr einfach. Eine Person wird in einem Land geboren und erhält gleichzeitig bestimmte Rechte und Pflichten. Ein Mensch hat es sich nicht ausgesucht, in diesem Land geboren zu werden und konnte es in keiner Weise beeinflussen, aber jetzt bestimmt das sein gesamtes Leben.

Ich habe eine russische Staatsbürgerschaft und um irgendwohin zu reisen, benötige ich fast immer ein Visum, das mittlerweile kaum noch zu bekommen ist. Mit dieser Bürgerschaft habe ich bis Oktober 2024 das Recht, in Deutschland zu bleiben, und dann muss ich erneut beweisen, dass dieses Land mich „braucht“, ich es nicht bedrohe und ich daher hier bleiben kann. Mit dieser Staatsbürgerschaft habe ich immer eine Trennung zwischen mir und anderen Menschen gespürt, die das Glück hatten, in einem anderen Land geboren zu sein, und jetzt haben sie mehr Freiheit, als wären sie besser als ich. Das spüre ich immer, zum Beispiel beim Grenzübertritt am Flughafen, wo es immer zwei Warteschlangen gibt, eine für die Europäische Union und eine für andere Menschen, die nicht dazu gehören. Ich erinnere mich, wie ich als Kind, als ich an der Grenze stand, immer in eine andere Warteschlange gehen wollte, weil diese kürzer war und mir die blaue Flagge mit den Sternen, die darüber hing, sehr gefiel. Ich verstand wirklich nicht, warum ich nicht dorthin gehen konnte, denn dort standen genau die gleichen Leute wie ich.

Ich möchte mich nicht beschweren, denn es gibt Menschen, die von Geburt an noch weniger Rechte haben als ich. Ich möchte, dass diese Ungerechtigkeit ein Ende hat. Es ist nicht fair, dass wir alle theoretisch absolut gleich sind, aber gleichzeitig leben manche Menschen in einer Demokratie, während andere sich das nicht einmal vorstellen können.

Wenn man das Konzept der Staatsbürgerschaft nicht nur als Information über den Ort, an dem eine Person geboren wurde, betrachtet, sondern sich die Frage stellt, was es eigentlich mit einem Menschen macht, dann ist das viel schwieriger.

Warum sagen Menschen stolz „Ich bin Russe“ oder „Ich bin Deutscher“, als ob sie tatsächlich etwas dafür getan hätten? Warum halten Menschen so sehr an ihrer Staatsbürgerschaft und Herkunft fest? Warum wirkt sich das so sehr auf ihre Identität aus? Wenn ein Mensch nichts hat, ist seine Herkunft seine größte Stärke. Es geht um dieses Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gesellschaft, aber was muss man tun, wenn die Gesellschaft sich nicht mehr den eigenen Vorstellungen von Gut und Böse anpasst?

Wenn die Welt eines Menschen über die Grenzen des Landes hinausgeht, zu dem man gehört, kann niemand sie ihm nehmen. Unsere Verantwortung beschränkt sich auf das Verständnis unserer Zugehörigkeit. Wenn meine Welt auf meine Staatsbürgerschaft beschränkt ist, endet meine Verantwortung dort, sodass mir Probleme im Nahen Osten oder Müll in Bangladesch egal sind. Diese Kultur des Denkens nur im Rahmen einer Staatsbürgerschaft zerstört die Welt, in der wir wirklich alle leben.

Warum stellen wir die Frage „Woher kommst du?” Warum ist es Menschen wichtig, das zu wissen, um einen Blick über die Person zu werfen? Sind wir alle nicht voll mit Vorurteilen in diesem Moment?

Am Anfang des Krieges habe ich zum Beispiel ein paar Mal gesagt, dass ich nicht aus Russland, sondern aus Estland komme, da ich nicht mit diesem Staat assoziiert werden wollte. In diesen Momente fühlte ich mich komisch. Ich blieb derselbe Mensch, kam mir aber anders vor, weil andere mich anders sahen. Es war, als ob ich mich nicht mehr als Teil Russlands und dessen, was es getan hatte, fühlte, es gab keine Schuldgefühle und Angst mehr.

Ich habe mal darüber mit meiner Mutter gesprochen und sie sagte: “Ich sage nicht, dass ich aus Russland bin, ich sage, ich bin aus Sankt Petersburg.“ Ich fand das lustig. Herkunft verändert sich weiter, und in diesem Moment nicht mehr im Kontext eines Landes, sondern eines Staates. Es kann noch kleiner gehen, denkt man zum Beispiel an Stadtvierteln oder sogar an Straßen und Häuser. Eine Person, die sagt, dass sie aus dem zentralen Bereich des Staates kommt, macht einen anderen Eindruck, als die Person, die in weit von der Stadt entfernten Vierteln, die oft als „benachteiligt“ angesehen werden, lebt.

Wenn ich aber zurück zur Frage meiner Zugehörigkeit kehren würde, denke ich, ich werde immer dazwischen bleiben, egal wie man mich nennt und was in meinem Pass steht. Dazwischen wie alle anderen Menschen, denn wie kann man so unterschiedlichen und individuelle Menschen in den Rahmen eines bestimmten Landes, eines bestimmten Territoriums, eines Stücks Land, einordnen? Es ist unmöglich.

Wenn ich über das Wort „Staatsangehörigkeit“ denke, habe ich die Assoziation mit dem Begriff “besitzen”: ich besitze etwas, das mir gehört. Das Land besitzt aber nicht den Menschen, und Menschen besitzen nicht das Land. Ich hoffe, dass wir alle eines Tages aufhören werden, irgendwo und zu jemandem zu gehören. Wir werden unabhängig, werden nicht mehr in Begriffen der Herkunft denken, und werden einen Menschen sehen. Einen Menschen, statt einer Staatsbürgerschaft, einen Menschen, statt eines Landes.