Der Deutschlandfunk strahlte am 9. November 2024, einem wichtigen Tag in der Erinnerungskultur Deutschlands, um 11.05 Uhr unter der Rubrik „Gesichter Europas“ über 50 Minuten lang eine Reportage von Jenni Roth über eine Reise entlang der russischen Grenze auf finnischer Seite aus. Unter dem Titel „Zeitenwende auf Finnisch“ wurde das historische und aktuelle Verhältnis zwischen RussInnen und FinnInnen beleuchtet. Der Deutschlandfunk gilt zu Recht als Qualitätssender. Umso auffallender ist es, wie sich die Redakteurin Jenni Roth mit der finnischen Erinnerungskultur auseinandersetzte bzw. – man muss es fast unterstellen – ihren eigenen Beitrag dazu leistete. So wird z.B. der Leistung der finnischen Armee im so genannten finnisch-russischen Winterkrieg 1939/1940 zu Recht breiter Raum in der Sendung eingeräumt. Die Rote Armee hatte damals bei weitem nicht mit einem so starken Widerstand der Gegenseite gerechnet und verlor viele Soldaten. Ein finnischer Pensionär, der Geschichte studiert, darf über diesen vermeintlich heroischen Sieg in dem genannten Beitrag ausführlich berichten (32:00 ff.). Dass die Finnen diesen Krieg am Ende doch verloren und große Teile Kareliens an die Sowjetunion abgeben mussten, wird korrekt dargestellt. Der Heroismus hatte also nicht viel genutzt.
Schwer wiegt jedoch die Tatsache, dass in dieser Sendung von „Gesichter Europas“ eines der größten Kriegsverbrechen in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges verschwiegen wird. Denn Finnland verbündete sich beim Angriff auf die Sowjetunion 1941 mit dem Deutschen Reich, stieß einerseits in die im finnisch-russischen Winterkrieg 1939/1940 verlorenen Gebiete vor, war aber auch 1941 bis 1944 an der Belagerung Leningrads von Norden her beteiligt. Die Strategie der deutschen und finnischen Belagerer bestand darin, die Stadt auszuhungern, und sie begingen damit eines der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit jener Zeit. Geschätzt 1,1 Millionen BewohnerInnen des damaligen Leningrad, heutigen St. Peterburg, starben durch Gewalteinwirkung, Krankheit, Kälte oder Hunger.
Zum Vergleich: Die Zahl der Opfer im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz im Rahmen des Holocausts durch systematische industrielle Vernichtung wird in etwa auf die gleiche Höhe geschätzt.
An diesem Kriegsverbrechen war auch die finnische Armee in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht beteiligt. Sie blockierte die Stadt von Norden her.
Die Sendung von Jenni Roth hebt zwar zurecht die Traumata der FinnInnen, beruhend auf ihren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg hervor, aber die der RussInnen als BewohnerInnen Leningrad, ist ihr keinen Hinweis wert.
Hierzu ist anzumerken: Die Kollaboration zwischen dem Deutschen Reich und Finnland kommt in dieser Sendung der „Gesichter Europas“ insgesamt nicht vor. Erst gegen Ende wundern sich die HörerInnen, dass plötzlich NationalsozialistInnen in Finnland vor Ort zu sein scheinen, um eine Erzmine auszubeuten oder zumindest davon zu profitieren. Genaueres bleibt unklar. (41:00 ff). Woher die NS-Akteure oder die Beziehungen plötzlich kamen, bleibt im Beitrag ungeklärt. Die Erzmine wird allerdings als Aufhänger genutzt, um wiederum die russische Vorherrschaft nach 1945 zu beklagen, die ab diesem Zeitpunkt bestand. Dass die Sowjetunion nach 1945 keinen Grund hatte, nach dem nationalsozialistischen Angriffs- und Vernichtungskrieg, in dem die FinnInnen mit Deutschland kollaborierten, den FinnInnen wohlgesonnen zu sein, wird von der Redakteurin nicht erwähnt.
Kann es sein, dass Jenni Roth in ihrem Bericht nicht nur der finnischen Erinnerungskultur auf den Leim gegangen ist, sondern sich offenbar durchaus der tatsächlichen historischen Verhältnisse bewusst ist. Denn sonst hätte sie sich fragen müssen, warum die NationalsozialistInnen plötzlich vor Ort waren oder das Erz nach Deutschland transportiert wurde. Oder hat sie nur ungenau recherchiert?
Zu Recht wird Wladimir Putin im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Geschichtsklitterung vorgeworfen. Er präsentiert ein wirres und in vielen Zügen falsches Geschichtsbild, das seinen Krieg völkerrechtlich legitimieren soll. Umso mehr sollte sich die Gegenseite um Transparenz und Vollständigkeit bemühen. Der Beitrag von Jenni Roth im Deutschlandfunk ist dafür leider kaum geeignet.
Bild: Drei Männer begraben Hungertote auf dem Wolkowo-Friedhof in den Tagen des Massensterbens, Oktober 1942
Quelle: Von RIA Novosti archive, image #216 / Boris Kudoyarov / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18133951