Abgehörtes Gespräch: Kremls innen- und erinnerungspolitische Dimension

In den seit Tagen öffentlich geführten Diskussionen über das von  Russland abgehörte Gespräch hochrangiger Bundeswehroffiziere wird die innenpolitische Funktion dieser Aktion für den Kreml auffallend wenig beachtet.

Der Kreml kann die in dem Gespräch angesprochenen Einsatzszenarien für den Marschflugkörper Taurus – ein möglicher Angriff auf die Krim oder sogar auf Moskau – propagandistisch sehr gut für sich nutzen. Die Botschaft, dass Deutschland nach 1941 erneut den Beginn eines Angriffskrieges gegen die Sowjetunion planen könnte, hat in der russischen Öffentlichkeit eine immense Wirkung.

Der Fakt, das aus dem abgehörten Gespräch auch hervorgeht, dass keine entsprechenden Waffenlieferungen an die Ukraine geplant sind und Bundeskanzler Olaf Scholz sich in diesem Zusammenhang unmissverständlich geäußert hat, ist angesichts des von Russland wahrgenommenen Bedrohungspotenzials von geringer Bedeutung.

Daraus lässt sich schließen, dass es Russland bei diesem Coup weniger darum geht, deutsche Militärs, Verwaltung, Politik und Öffentlichkeit zu verunsichern. Sicherlich ist diese Absicht klar erkennbar und ein sehr wichtiger Punkt. Aber der Hauptpunkt des Coups dürfte die innenpolitische Botschaft an die russische Öffentlichkeit sein.

Interessant ist, dass die beabsichtigte Wirkung des Inhalts des abgehörten Gesprächs auf die russische Öffentlichkeit in Deutschland kaum thematisiert wird.

Das hängt mit der erinnerungspolitischen Tradition der Bundesrepublik in Bezug auf die Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges zusammenhängen. Während die Westalliierten, allen voran die Amerikaner, nach 1945 als Befreier Deutschlands vom Nationalsozialismus wahrgenommen und geehrt wurden, galt die Sowjetunion sehr schnell wieder als neuer Feind. Ihr Anteil an der militärischen Niederlage des NS-Regimes geriet weitgehend in Vergessenheit. Das ist historisch falsch, denn sie trug die Hauptlast im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Rund 24 Millionen Menschen, Soldaten und Zivilisten, bezahlten den Vormarsch, den Abwehrkampf und die erfolgreiche Offensive gegen Wehrmacht und SS mit dem Leben. Die physisch und psychisch Verletzten sind in dieser Zahl nicht enthalten.

Dieser immense Blutzoll ist im Bewusstsein der russischen Öffentlichkeit sehr präsent. Überhöht und heroisiert wird er durch den  militärischen Sieg der Roten Armee über das nationalsozialistische Deutschland und die Eroberung Berlins.

Deshalb weckt die Nachricht von angeblichen Angriffsplänen Deutschlands gegen Russland – der Taurus-Marschflugkörper könnten von der Ukraine aus auch Moskau erreichen – in der russischen Öffentlichkeit Urängste und zugleich eine Trotzreaktion. Sie ist bestens geeignet, die russische Bevölkerung für Putins Krieg gegen den „Westen“ innen- und erinnerungspolitisch zu mobilisieren.