Ein kritischer Blick in die alltägliche russische Propaganda.
Von Anna Vilkova
Wir veröffentlichen heute den vollständigen Text.
Teil I
Ich kenne die Frage und stelle sie mir selbst: Warum existiert dieses totalitäre System in Russland trotz vieler Menschen, die dagegen sind, und trotz seiner ganzen Absurdität? Die Antwort besteht aus vielen verschiedenen Aspekten. Propaganda ist natürlich einer davon. Ich wollte mir selbst ein Bild machen, um zu verstehen, wie andere Menschen mit einer anderen Position als die Meine denken. Was mir immer Angst gemacht hat, ist, dass diese Menschen ihre Wahrheit genauso aufrichtig glauben wie ich an meine, und ich wollte verstehen, warum. Ich sah mir deshalb mehrere Folgen der Sendung „Abend mit Sergey Solovyov“ an. Früher habe ich kurze Momente davon bei Verwandten im Fernsehen oder im Internet gesehen. Ich hatte keine großen Erwartungen und dachte, dass mich das, was ich sehen würde, nicht überraschen würde, da ich die propagandistischen Ideen und Gedanken seit meiner Kindheit immer gehört hatte.
Es war jedoch anders.
„Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, ein Programm für einen intelligenten, fürsorglichen Zuschauer zu erstellen, das es uns ermöglicht, aktuelle Themen zu diskutieren“ – so lautet die Beschreibung des „Abend mit Sergey Solovyov“. Diese Sendung existiert seit 2005, wird fast täglich ausgestrahlt und dauert ungefähr 2,5 Stunden pro Folge. Sie ist eines der größten propagandistisch geprägten Fernsehprogramme in Russland.
Ich kann mit Sicherheit sagen, dass sie eine der drei Säulen ist, mit versucht wird, die Unterstützung, ja sogar „Liebe“ für die moderne Regierung in Russland und das Putin-Regime zu wecken.
Acht Männer – darunter Politiker, Politikwissenschaftler, Journalisten und Unternehmer – standen bei der von mir gesehenen Sendung im Kreis und diskutierten die aktuellen Nachrichten. Der Moderator, Sergey Solovyov, begann die Ausgabe mit einer kleinen Anmerkung darüber, wie müde er sei, von der Anzahl an Ereignissen und Nachrichten. Er verwies auf ein Zitat, das Olaf Scholz angeblich gesagt haben soll, dass den Politikern die Lehrbücher weggenommen werden müssen, damit sie nicht mehr über die Geschichte nachdenken (weil es wahrscheinlich einfacher wäre, so zu leben). Dazu wurde weiter kommentiert: “Scholz habe unabsichtlich das Wesen der westlichen Welt verraten”. Ich habe bei einer Recherche keine Belege für dieses Zitat gefunden.
Dann sprachen die Beteiligten über Frankreich, das „im 21. Jahrhundert nicht in der Lage ist, die Flecken des Kolonialismus loszuwerden.“ Die Moderatoren wandten sich dem Thema der Französischen Revolution zu und sprachen mit Ironie über deren Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und erwähnten auch die amerikanische Verfassung, deren Rechte „weder Frauen noch dunkelhäutige Menschen betrafen.“ Es war interessant, dies anzuhören, denn das sind die Ansichten einer sehr politisch linken Position. Ich bin erstaunt über dieses Doppeldenken und diese Heuchelei, denn bei der Rede über Rechte und Freiheiten gibt es natürlich keine Kritik an Russland.
Dann begann plötzlich ein Gespräch über Estland. Es hatte keine große Bedeutung, es war eher nur eine kleine Einfügung mit Beleidigungen: „Das verdammte Estland glaubt, es könnte Russland in die Knie zwingen – Läuse haben sich versammelt und diskutieren darüber, wie sie einen Elefanten fressen werden.“
Später wechselten die Moderatoren zu „Menschen, die plötzlich anfangen, die Wahrheit zu sagen“ und zeigten einen Ausschnitt aus einem Interview zwischen Alexander von Bismarck und Harald Kujat, mit dem Kommentar: „Es ist keine Beleidigung, er heißt wirklich so.“ Harald Kujat, ein deutscher General a. D. der Luftwaffe und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, sprach im gezeigten Auszug über die Legitimation der Hilfeleistung an die Ukraine als Rechtfertigung für die Einführung eigener Waffen.
Anschließend wurde ein Auszug aus einem Interview mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gezeigt, in dem er über die Überarbeitung der Beschränkungen für die Lieferung von Waffen an die Ukraine zum Einsatz auf russischem Territorium sprach. Stoltenberg selbst wurde als „billige Sekretärin“ bezeichnet, die weder die Autorität noch die Ausbildung noch die Erfahrung habe, um zu diesem Thema zu argumentieren und Entscheidungen zu treffen. “Von einer Verteidigung der Ukraine ist keine Rede. Die Ukraine ist ein Aggressor, der seit 2014 unter Verstoß gegen seine eigene Verfassung Terroranschläge gegen sein Volk verübt.”
Teil II
Während der gesamten Sendung waren demütigende Witze zu hören, das N-Wort wurde mit Ironie verwendet. Es wurden viele verschiedene Themen besprochen. Der stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma der Russischen Föderation sprach über die Einkommensungleichheit aller Bürger und die Probleme der Unterfinanzierung des sozialen Bereichs in Russland. Ich fand es interessant, dass es Kritik an Regierungsbehörden gab. Der nächste Moderator sprach über den strategischen und operativen Erfolg Russlands gegenüber dem Westen und darüber, dass der Westen nicht wisse, was er tun und sich auf den Krieg vorbereiten solle. Er fragte, wie lange es dauern werde, und verwieß auf die „Spezialoperation“, den Krieg gegen die Ukraine. Wie ich aus früheren Ausgaben erfahren habe, besteht der Standpunkt, dass Selensky für den Krieg verantwortlich sei und Menschen wegen ihm sterben. Von einer Eskalation der Lage war die Rede, „dass Russland provoziert wird, um unseren Willen auf die Probe zu stellen“, dass dies „für Amerika von Vorteil sei, weil es vom Krieg in Europa profitiere: „Die Polen, dann die Deutschen, na ja, die baltischen Staaten, es ist klar, alle werden kapitulieren (wie es immer der Fall war) und ihnen (den Amerikanern) wird nichts passieren. Es stellt sich die Frage: Wie bereit sind sie für einen echten Krieg? Es heißt, dass nun ein Wendepunkt gekommen ist, nachdem klar sein wird, wer stärker ist, wer mehr Ausdauer hat. Höchstwahrscheinlich sind wir es, wenn man die Innenpolitik betrachtet und wie ruhig Entscheidungen getroffen werden. Wir sind nicht Israel, wir haben keine militärische Zensur. Wir sind nicht der Iran.“
Angesichts dieses Zitats möchte ich daran erinnern, dass in Russland in den letzten 10 Jahren die Zahl der politischen Gefangenen um das Fünfzehnfache gestiegen ist und die Strafe für die Diskreditierung und Verleumdung von Teilnehmern des Krieges bis zu 15 Jahre Gefängnis betragen kann.
Die Momente, die ich beschreibe, waren nur ein kleiner Teil der ganzen Sendung. Es war ein ständiger Strom von Thesen, ohne viel Diskussion oder Nachdenken. Ein kontinuierlicher Fluss von Informationen, durchgekaut und geschaffen, ohne Kritik aufgenommen und auswendig gelernt zu werden.
Mir war klar, dass die Moderatoren wahrscheinlich keinen hochintellektuellen Redestil verwenden würden, aber ich habe keine so direkte und unhöfliche Erzählweise erwartet.
Es scheint mir, dass Propaganda in Russland früher sehr sorgfältig und unmerklich zwischen den Zeilen verbreitet wurde, aber jetzt ist die Situation stark eskaliert. Manchmal sprechen die Moderatoren in einer einfachen, elementaren Sprache, erklären und teilen die Welt in Schwarz und Weiß: Der Westen ist der Feind, Russland ist großartig. Manchmal wird die Rede völlig unverständlich, es beginnen Fachbegriffe und Analysen, wahrscheinlich ist dieser Teil für den Durchschnittszuschauer nicht so wichtig, um ihn zu verstehen.
Aber das Auffälligste, was ich hörte, war die Botschaft und Ideologie, die in der Sendung präsentiert wurde. Ich erwartete zu hören, dass in der Ukraine alle Nazis seien und dass Russland das beste Land sei. Natürlich gibt es das auch, aber im Grunde ist die gesamte Erzählung durchdrungen von scheinbar sehr liberalen Ideen, vom multinationalen Russland, von der Bewahrung der großen ukrainischen Kultur, die jetzt in Gefahr sei, von Freiheit und Gleichheit. Ich war so überrascht, dass es sich bei der großen Menge an Material, das im Programm besprochen wird, um Material aus Europa, Interviews, Reden usw. handelte. Fast jede These wird durch ein klares Beispiel bestätigt, und das Schlimmste ist, dass man anfängt, daran zu glauben.
Ja, es ist sehr einfach, daran zu glauben. Denn man möchte immer an gute Dinge glauben, vor allem, wenn sie auf emotionale und scheinbar rationale Weise präsentiert werden. Natürlich ist eine solche „Wahrheit“ viel einfacher zu akzeptieren, und damit lebt es sich besser. Es ist angenehmer zu denken, dass Russland ein erfolgreiches, hochentwickeltes, freies Land ist, dass man die ganze Verantwortung für Probleme dem Westen zuschieben kann und dass der Staat sich um alle kümmert. Ich hätte eigentlich auch gern so gedacht, aber leider ist es nicht so.
Bildquelle: https://khv27.ru/projects/obshchestvennaya-palata-goroda-khabarovska/novosti/index.php/?ELEMENT_ID=120948
Administration of the City of Khabarovsk.
Propagandistischer Flashmob in der Platinum Arena in Chabarowsk am 11. März 2022, organisiert vom zentralen Bezirkskomitee der Partei „Einiges Russland“, die die Politik von Wladimir Putin unterstützt. Mitglieder der Jugendorganisation und lokale VertreterInnen stellten sich in der Z-Formation auf, die mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verbunden wird. Das kontextlose Zeigen dieses Symbols ist in Deutschland verboten.