„Germanen“ und „Slawen“ – Das verzerrte Geschichtsbild des Compact-Magazins

Die Verleugnung historischer Fakten sowie Geschichtsumdeutungen bilden in rechtsextremen Kreisen häufig die Rechtfertigungsgrundlage und Legitimationsbasis für imperiale Ansprüche und eine vermeintliche Überlegenheit der „Deutschen“ gegenüber anderen Menschen. Ein aktuelles Interview des Compact-Magazins offenbart ein in bestimmten rechtsextremen Kreisen weit verbreitetes Geschichtsnarrativ, das sich auf das vermeintliche „Heldentum“ der Germanen beruft und daraus eine Überlegenheit des „deutschen Volkes“ gegenüber anderen abzuleiten versucht.

Im Compact-Magazin, einer vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuften politischen Monatszeitschrift, ist vor kurzem ein Interview mit dem Historiker Jan von Flocken erschienen. Dieser wurde von Stephanie Elsässer, der Frau des Compact-Chefredakteurs Jürgen Elsässer, im Rahmen des kürzlich von Compact herausgegebenen Geschichts-Magazins „Die Germanen“ interviewt.

Elsässer fragt zu Beginn des Interviews, inwiefern die Germanen das prägende Volk Europas gewesen seien, woraufhin von Flocken zunächst mit der Sprache argumentiert. Das Germanische habe sich als einzige damals schon verbreitete Sprache in Europa durchgesetzt und gehalten. Das Slawische sei erst später gekommen. Ferner behauptet von Flocken:

„Auch die Slawen, nehmen wir mal Russland; „Rus“ ist ein germanisches Wort und bedeutet „Ruderer“. Also die Kiewer Rus, das Urrussland, ist germanisch geprägt, auch wenn man das dort nicht so gerne hört. Also insofern stimmt das schon, dass die Germanen bis heute, wie man sagen kann, die prägende Volksgruppe für Europa sind.“

Neben der fragwürdigen Behauptung, dass „die Germanen“ die prägende Volksgruppe für Europa seien, fallen weitere problematische Konstruktionen auf. Zunächst sei da die Verallgemeinerung verschiedenster Stämme und Volksgruppen als „die Slawen“ zu nennen. Eine genaue Begriffseinordnung erweist sich als schwierig; die nachträgliche Konstruktion einer Einheit als mindestens genauso problematisch.

Die Kyjiwer Rus als „Urrussland“

Viel angreifbarer ist jedoch die Bezeichnung der Kyjiwer Rus als „Urrussland“ beziehungsweise „Wiege Russlands“, wie es an anderer Stelle heißt. Die Kyjiwer Rus war ein mittelalterliches Großreich, welches sowohl als Vorläuferstaat der Ukraine, als auch von Russland gilt. Sie ist für beide Staaten ein wichtiger Bezugspunkt des kulturellen und historischen Gedächtnisses. Es gibt verschiedene Theorien über die Etymologie des Wortes ‚Rus‘; ein germanischer Ursprung ist unter LinguistInnen nicht eindeutig belegt.

Die Kyjiwer Rus ist ein wichtiger Angelpunkt einer langanhaltenden Auseinandersetzung zwischen russischer und ukrainischer Geschichtsauslegung. Beide Staaten beanspruchen das kulturelle und territoriale Erbe dieses bis zum 13. Jahrhundert zerfallenden Großreichs für sich. Ohne hier auf die durchaus komplexe Entwicklung der Rus einzugehen, sei gesagt, dass die polarisierende historische Forschung seit Jahrzenten im Zentrum einer erinnerungskulturellen und nationalen Identitätsauseinandersetzung zwischen beiden Staaten steht. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erhielt dieser Streit eine neue Dimension. Russlands imperialer Anspruch sowie die als legitim angesehene und vermeintlich historisch begründete Bestrebung einer Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland offenbaren sich daran. Die Kyjiwer Rus also als Vorgängerstaat und Wiege Russlands zu bezeichnen, impliziert vor diesem Hintergrund eindeutig eine Verharmlosung russischer hegemonialer Ansprüche und des damit zusammenhängenden Kriegs. Die territoriale Integrität der Ukraine und historische Ansprüche werden ihr durch derartige Aussagen aberkannt. [1]

Im Text wird das Gebiet außerdem als ‚Kiewer Rus‘ bezeichnet. Generell ist es in der deutschen Sprache noch gängig, die Ukrainische Hauptstadt Kyjiw mit der aus der Russischen Sprache übernommenen Transliteration ‚Kiew‘ zu schreiben. Viele UkrainerInnen empfinden das vor allem seit dem Angriffskrieg Russlands als angreifend. Seit März dieses Jahres benutzt auch das Auswärtige Amt daher die ukrainische Transliteration ‚Kyjiw‘ im deutschen Amtsverkehr und kommt damit einer langgehegten Bitte der Ukraine nach. Die Ukraine soll nicht länger durch die Linse der Russischen Sprache betrachtet werden. Um sich allerdings gegen solche Solidaritätsbekundungen zu stellen, verwenden einige Medienschaffende weiterhin bewusst die russische Transliteration ‚Kiew‘.

„Die Germanen – Die ersten Deutschen“

In der Beschreibung der Sonderausgabe Geschichts-Magazins „Die Germanen – Die ersten Deutschen“ heißt es weiter, dies sei ein „Standardwerk zu Ehren unserer Ahnen, wie es einzigartig in der deutschen Medienlandschaft ist.“ An dieser Aussage zeigt sich der Wahrheits- und Offenbarungsanspruch der AutorInnen dieses Magazins. Sie impliziert, dass das allgemein anerkannte und vermittelte Geschichtsbild anderer, beziehungsweise öffentlich-rechtlicher, Medien falsch sei. Den LeserInnen des Magazins werde also exklusiv die ‚wahre Geschichte‘ offenbart, die von anderen Medien verschleiert und vertuscht werde. Diese Enthüllungsrhetorik ist eine gängige Argumentationsstruktur von RechtsextremistInnen.

Der Rest des Interviews fokussiert sich auf die „Geschichte der Germanen“, deren Götterwelt und verschiedene Stämme. Es werden immer wieder historisch fragwürdige Aussagen getroffen, sowie problematische Kontinuitätslinien gezogen. Die Germanen werden mehrmals als „Urväter“ der Deutschen bezeichnet (so auch in der gesamten Magazin-Ausgabe). Auf die Frage hin, welcher Stamm denn am bedeutendsten gewesen sei, hebt von Flocken die Sachsen hervor und konstatiert: „Und wenn man sich heute so umhört, wenn man vielleicht an künftige Wahlen denkt, dann scheinen mir die Sachsen doch ein relativ selbstbewusstes und durchaus intelligentes Völkchen zu sein.“ Diese Aussage ist vor allem mit Blick auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen kritisch zu betrachten, bei der die AfD laut aktuellen Prognosen beinahe ein Drittel der Stimmen erhalten und damit stärkste Kraft werden könnte. Besonders vor diesem Hintergrund zeigt sich, wie ernstzunehmend und gefährlich ein solch geschichtsverzerrendes Selbst- und Weltbild ist.

Das gesamte Interview wurde auch auf YouTube hochgeladen und hat über 10.000 Aufrufe (Stand: 08.05.2024). Die Kommentare sind ausschließlich positiv, zustimmend und teils geschichtsrevisionistisch. Dies zeigt, dass nicht nur einige verwirrte Minderheit ein derart verzerrtes Geschichtsnarrativs hat, sondern Zehntausende empfänglich für solche Thesen sind. Einmal mehr wird klar, dass die Vermittlung eines wahrheitsgemäßen, komplexen und faktenbasierten Geschichtsbilds als zentrale Aufgabe einer funktionierenden Demokratie verstanden werden muss.

[1] Mehr zur geschichtspolitischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine, sowie zur Geschichte der Kyjiwer Rus hier:
https://www.bpb.de/themen/europa/russland/295403/die-kiewer-rus-geteilte-erinnerung-in-der-ukraine-und-in-russland/

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2022.

E.S.

Wenn Sie mehr über die Positionierung des Compact-Magazins und anderer rechter Gruppen zu Russland und dem Ukraine-Krieg erfahren wollen, lesen Sie gern hier weiter:
https://antisla.de/die-positionierung-rechtsextremistischer-rechtspopulistischer-und-gruppierungen-der-neuen-rechten-zur-finanziellen-unterstuetzung-der-ukraine/