„Jedes Mal, als ich sie gehört habe, dachte ich, dass ich schon tot bin.“

Anlässlich des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022: Gespräch mit Sofiia, einer Studentin aus Kiew, über ihre Flucht aus der Ukraine: Teil 1

www.antisla veröffentlicht in zwei Teilen ein Gespräch mit der ukrainischen Studentin Sofiia. Der Text erscheint unredigiert. Sie schildert ihre Erlebnisse zu Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Das Interview wurde für uns geführt von der St. Petersburgerin Anna Villkova.

Teil 1 erscheint heute, Teil 2 morgen, am 24.2.2024.

 

„Mein Name ist Sofiia, ich bin in Kiew, in der Ukraine geboren. Vor meinem Umzug nach Deutschland habe ich an der Universität studiert und war sehr mit meinem Leben zufrieden. Ich wurde aber gezwungen, wegen des Krieges die Ukraine zu verlassen.

Als der Krieg ausgebrochen wurde, war ich in Kiew. Es war eine sehr schwierige Zeit, da vor kurzem meine Oma gestorben ist. In der Nacht am 24. Februar konnte ich deswegen nicht normal schlafen. Ich wurde geweckt, als eine Freundin von mir mich um 4 Uhr morgens angerufen hat. Sie hat angefangen zu weinen und zu schreien: „Sofiia, hast du schon das gesehen und gehört? Das hat schon angefangen. Der Krieg ist schon da. Putin hat uns angegriffen”.

Ich bin sofort zu meinen Eltern gerannt. Sie wussten, was los war und waren ganz ruhig. In diesem Moment habe ich Explosionen gehört. Das waren die schrecklichsten Geräusche, die man hören kann. Ich bin vor Entsetzen hochgesprungen und habe gezittert. Das war ekelhaft. Ich hatte so einen großen Schock, dass ich gar nichts machen konnte. Meine Eltern haben versucht, mich anzusprechen, aber ich konnte nicht antworten. Ich habe mich so verloren gefühlt.

Meine Erinnerungen sind sehr vermischt wegen des Stress und ich kann nicht genau sagen, was wann danach passierte. Ich habe viel vergessen. Ich erinnere mich daran, dass es kein Essen und Wasser zu kaufen gab. Meine Familie war natürlich für so was gar nicht vorbereitet. Wir hatten gar nichts.

Die russische Armee rückte sehr schnell vor, und schon am ersten Tag hat sie Kiew fast erreicht. Sie war sehr groß und war schwer bewaffnet. Alle wussten, wie unmenschlich die russischen Soldaten sein können, dass sie Kinder und Frauen getötet und vergewaltigt haben. Ich habe verstanden, dass das auch mit mir, meiner Mutter oder mit meinen Freundinnen passieren kann. Es war klar, dass es in meiner Heimatstadt  nicht mehr sicher war. Ich wusste nicht, ob ich und meine Familie diesen Tag überleben werden. Wir haben entschieden, dass wir so schnell wie möglich ausreisen müssen. Das Problem war aber, dass in Kiew kein Verkehrsmittel fuhr und es sehr gefährlich war, durch die Stadt zu laufen. Alle hatten Angst, und es gab niemanden auf den Straßen. Ich hatte das Gefühl, dass Kiew schon tot ist. Das sind die schlimmsten Erinnerungen meines Lebens. Es handelte sich um einen tatsächlichen Krieg, der jetzt in meinem Land passiert, keineswegs um eine Erzählung oder eine Geschichte aus Büchern.

Ein Bekannter von meiner Familie hat uns mit dem Auto zum Bahnhof gebracht. Alles in der Nähe war voll mit Menschen. Neben den Explosionen, die die ganze Zeit ausgelöst wurden, gab es auch da DRG-Gruppen. Das sind Gruppen aus Menschen, die aus Russland gekommen sind, aber schon lange in der Ukraine gelebt haben. Als der Krieg begann, haben sie auf der Seite Russlands gekämpft. Sie waren sehr gefährlich, da sie Waffen hatten. Ich erinnere mich, wie sie angefangen haben, aus Gebäuden zu schießen. Ich habe selbst gesehen, wie Menschen gefallen und gestorben sind. Das war sehr schwierig. Es gab eine schreckliche Panik. Ich dachte, Ukrainer*innen sind verrückt geworden. Man konnte nicht normal mit Menschen sprechen. Menschen sind zu Tieren geworden. Wenn alle so eine große Angst um ihr eigenes Leben haben, sind sie bereit, andere zu töten, nur um zum Beispiel einen Platz im Zug zu bekommen. Es gab keine Regeln, wer in den Zug gehen konnte, und deswegen gab es so viele Schlägereien. Es war egal, wer du bist, vielleicht ein Kind oder eine alte Frau. Viele Menschen hatten ihre Haustiere dabei und manche haben diese Tiere getötet, da es so einen großen Kampf um die Plätze gab. Ich wurde auch von einem Mann bedroht, der meinte, dass, wenn ich den Zug nicht verlassen werde, er mich umbringen würde.

Wir hatten Glück, einen Rettungszug zu erreichen. Wie haben einfach den ersten Zug genommen und wussten nicht, wo er abfährt. Wir mussten im Zug die ganze Zeit stehen, da es so voll war. Es war sehr schwierig zu atmen. Das Schlimmste war, dass alte Menschen diese Bedingungen nicht überstehen konnten. In dem Wagen, wo ich stand, sind drei Menschen gestorben. Wir konnten nichts machen, es gab keine Möglichkeit, diesen Menschen zu helfen. Eine von ihnen stand ganz nah an mir. Man konnte mit Leichen während der Reise nichts machen. Wir sind einfach so weiter gefahren.

Ich habe mehrere Flugzeuge im Himmel gesehen, die die Stadt bombardiert haben. Fünf von denen sind genau über uns geflogen. Die waren so niedrig und kamen dem Zug so nahe. Jedes Mal, als ich sie gehört habe, dachte ich, dass ich schon tot bin. Im Wagen gab es mehr als zweihundert Menschen, und es konnte einerseits deswegen sehr laut sein, aber man konnte andererseits gar keine Geräusche hören. Es war unglaublich still.

Ich schaute meinen Vater an, ich habe so viel Verlust in seinen Augen gesehen. Der wusste, dass er alles, was er in seinem Leben verdient und gemacht hat, jetzt einfach verloren hat. Wir haben Kiew verlassen, wir haben unser ganzes Leben da verlassen und wussten nicht, was jetzt mit unserer Stadt passieren wird und was wir machen müssen. Unser ganzes Leben wurde innerhalb eines Tages komplett geändert. Wir haben gar nicht miteinander gesprochen. Wir wussten nicht, worüber wir sprechen können. Es gab keinen Sinn, es konnte uns nicht helfen. Nichts konnte uns helfen. Es gab keine Unterstützung.“

Fortsetzung folgt.