Warum der Friedensdiskurs in Ostdeutschland mehr Unterstützung hat als in Westdeutschland – ausführliche Hintergrundinformationen.
Der aktuelle Diskurs um Friedenslösungen in der Ukraine ist ein Top-Thema der ostdeutschen Landtagswahlen geworden. Es stellt sich die Frage, warum die Parteien gerade dort denken, dass dieses eigentlich internationale Thema die Menschen bewegt. Um das zu verstehen, muss in tief in noch bestehende deutliche Unterschiede der Gesellschaften von Ost- und Westdeutschland gesehen werden.”
Es wird im Augenblick in den Medien zu Recht gefragt, warum
– die Skepsis in Ostdeutschland angesichts des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine hinsichtlich weiterer finanzieller Unterstützung oder Waffenlieferungen an die Ukraine groß ist,
– die Tendenz, mit Russland über einen Friedensschluss im Status quo zu verhandeln in Ostdeutschland stärker ausgeprägt ist als in Westdeutschland.
– die Sympathie für den Aggressor Russland in Ostdeutschland größer ist als in Westdeutschland.
Um Antworten zu erleichtern, stellen wir beiliegende umfangreiche Hintergrundinformationen unter dem Titel „Warum die Ostdeutschen eher Frieden mit Russland wollen, als die Westdeutschen“ zur Verfügung.
Die Zusammenfassung ist nun vollständig veröffentlicht.
Hintergrundinformation: „Warum die Ostdeutschen eher Frieden mit Russland wollen, als die Westdeutschen“
Die so genannte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigt die gestellte Frage. Auf den Seiten 280/281 weisen die AutorInnen darauf hin, dass Ostdeutsche tendenziell mehr auf der Seite Russlands und Chinas stehen als Westdeutsche.
Die Studie finden Sie unter:
https://www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=91776&token=3821fe2a05aff649791e9e7ebdb18eabdae3e0fd
Die AutorInnen argumentieren in ihrer Begründung für diese Haltung mit Sozialisationsverläufen, die in Ostdeutschland seit 1949 natürlich andere waren als in Westdeutschland. Sie belegen diese Sozialisationsverläufe aber nicht.
Folgende qualitative Aspekte erscheinen aus unserer Sicht in diesem Zusammenhang wichtig:
Aspekte unterschiedlicher Sozialisationspfade in Ost- und Westdeutschland
Politik
- In Ostdeutschland besteht der Eindruck, dass insbesondere die Medien nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zwar Russland zu Recht verurteilt haben, aber Kriege der Weltmacht USA (Irak/Afghanistan) kaum noch erwähnt werden.
- Vielfach wird in Ostdeutschland die Meinung vertreten, die USA führten in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg.
- Ein möglicher schneller Beitritt der Ukraine zur EU wird kritisch gesehen. Es wird die Frage gestellt, ob das Land die notwendigen Kriterien erfülle und ob es sich nicht doch um eine „Einkreisungspolitik“ gegenüber Russland handele. Die Berichterstattung wird auch in diesem Zusammenhang in Frage gestellt.
Der Zweifel an den vermeintliche „Systemmedien“ ist in Ostdeutschland größer als in Westdeutschland.
Parteipräferenzen
- Die AFD, die in den ostdeutschen Bundesländern immerhin rund 30 Prozent Zustimmung erhält, sowie das Sahra Wagenknecht-Bündnis, dessen Bedeutung für die kommenden Wahlen allerdings noch nicht abzuschätzen ist, stilisieren sich als Friedenspartei und sympathisieren mehr oder weniger mit Russland. Auch damit mobilisieren sie die Öffentlichkeit vor allem im Osten. Bündnis 90/Die Grünen, eine Partei, die sich klar für die Unterstützung der Ukraine ausspricht, hat dagegen in Ostdeutschland traditionell deutlich weniger Unterstützung.
Erinnerungspolitik
- In Ostdeutschland gibt es eine erinnerungspolitische Tradition, der Sowjetunion den Hauptanteil an der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus zuzuschreiben. In Westdeutschland stehen die Westalliierten im Vordergrund.
- Dank der USA und den Adenauer-Regierungen ab 1949 war der Antikommunismus in Westdeutschland viel ausgeprägter als in Ostdeutschland. Zudem war die Bevölkerung 1990 dankbar, dass die Russen sich nicht negativ in die politische Entwicklung eingemischt hatten und friedlich abzogen.
- Da die Ostdeutschen zu DDR-Zeiten häufig auch persönlich Kontakt mit russischen Soldaten hatten, unterscheiden sie klar zwischen dem oligarchischen System der Sowjetunion bzw. heute Russlands und der russischen Bevölkerung. Auch der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird als Kampf zweier oligarchischer Systeme (Putin/Selinskyj) interpretiert, unter dem beide Bevölkerungen leiden. („Russlandfreunde versus Putinversteher“).
- Die sowjetischen BesatzerInnen hatten durchaus Anteil an der ostdeutschen Gesellschaft (Hilfe bei Ernteeinsätzen, in der Industrie, russische Schulen, gemeinsame Feste usw.). Dies war in Westdeutschland nicht der Fall.
- Das vermeintlich antifaschistische Grundverständnis der DDR führt bei Ostdeutschen bis heute dazu, dass sich die Solidarität mit der Ukraine, die heute rechtsextreme Brigaden in der Armee hat (Regiment Asow) und mit Stepan Bandera während des Zweiten Weltkriegs einflussreiche Antisemiten als Nazi-Kollaborateure beherbergte, in Grenzen hält. Dieser Hintergrund ist in Westdeutschland deutlich weniger bekannt.
Innenpolitik
- Die Revolution von 1989/1990 verlief friedlich. Darauf ist man zu Recht stolz. Viele ostdeutsche AkteurInnen stehen daher kriegerischen Auseinandersetzungen per se kritisch gegenüber („Schwerter zu Pflugscharen“).
- Die ostdeutsche Bevölkerung hat 1989 einen hohen Preis für den Wiederaufbau der fünf neuen Bundesländer gezahlt. Gestützt auf die wirtschaftliche, soziale und politische Kraft Westdeutschlands gelang unter großen Anstrengungen ein sichtbarer Aufschwung. Die hohen finanziellen Transaktionen zur Unterstützung der Ukraine bzw. der Ukrainerinnen in Deutschland stoßen auf Unmut. („Wir Ossis haben auch bei Null angefangen!“). Gerade die zu Beginn des Krieges aggressiv vorgetragenen Forderungen nach Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe, insbesondere des damaligen Botschaftern der Ukraine A. Melnyk, haben dem Image der Ukraine in Ostdeutschland nicht gut getan.
- Zudem sind viele Menschen nicht vom demokratischen Status der Ukraine überzeugt.
Wirtschaft
- Mit Russland bestanden seit DDR-Zeiten intensive Wirtschaftsbeziehungen. Nach 1990 wurden diese weiter ausgebaut, so dass Sanktionen gegen Russland bzw. die Einstellung der Handelsbeziehungen, insbesondere der Rohstofflieferungen, für Ostdeutschland einen größeren Einschnitt bedeuten als für Westdeutschland.
- Als Rohstofflieferant war Russland auch zu Zeiten des Kalten Krieges ein verlässlicher Lieferant, auch für Ostdeutschland. Diskussionen über zu hohe Energiepreise wie heute gab es nicht.
- Der gemeinsame Bau von Energietrassen durch Russen und Ostdeutsche (z.B. die 2750 km lange Druschba-Trasse) mit Tausenden von Beschäftigten brachte viele persönliche Kontakte, Technologieaustausch und Stolz auf die eigene Leistung. Das muss bei der Diskussion um Nord Stream berücksichtigt werden. Das ist den Westdeutschen nicht bewusst.
- Ostdeutschland hat nach 1945 auch hohe Reparationszahlungen an die Sowjetunion geleistet. Das wurde als große Ungerechtigkeit empfunden. Jetzt gibt es wieder einen Transfer von Wirtschaftsleistungen in den Osten, hier in die Ukraine.
Gesellschaft
- In der DDR gab es vor allem in der Anfangszeit enge Verbindungen der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Führung zur Sowjetunion. Es gab auch viele persönliche Beziehungen. Diese konnten sich in Westdeutschland nicht entwickeln.
- Obwohl das Erlernen der russischen Sprache in der DDR nicht sehr effektiv war, haben Ostdeutsche heute einen viel leichteren Zugang zu Osteuropa und seiner Kultur als Westdeutsche. (Frau Merkel konnte sich mit Putin auf Russisch unterhalten, worauf die Ostdeutschen immer stolz waren).
- Ein Teil der ostdeutschen Gesellschaft strebte nach 1945 durchaus den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft an. Dies zeigte sich auch 1989/1990 in der Vorstellung, einen dritten Weg mit der Bundesrepublik zu gehen und nicht einfach der BRD beizutreten. Auch heute noch gibt es in Ostdeutschland VerfechterInnen dieser Position.
- Die Affinität zu Russland lässt sich auch mit einem Antiamerikanismus in Ostdeutschland erklären, in dem Sinne, dass amerikanischen Interessen und Handlungen per se ein kapitalistischer Impetus innewohnt und kein „gerechter oder westlicher“ etc.
- Misstrauen aufgrund unterschiedlicher Sozialisation: Bei der Corona-Epidemie mussten die Ostdeutschen erfahren, dass der russische Impfstoff Sputnik nicht zugelassen war. Dabei hatten alle Ostdeutschen über 40 Jahre lang russische Impfstoffe erhalten und waren damit gut gefahren. Die Bevorzugung der „westlichen Impfstoffe“ Moderna und Biontec unterlag dem Misstrauen der vorgeblichen Bevorzugung des „Westens“.
- Es scheint für die Ostdeutschen aus ihrer politischen Kultur weit verbreitet zu sein, dass es eine internationale Friedensordnung nur mit Russland und niemals ohne Russland geben könne. Die Westbindung der alten Bundesländer und das Vertrauen auf NATO/USA erscheint als politische Überheblichkeit, die diese politikwissenschaftliche und militärische Tatsache ignoriert oder zu wenig beachtet.
Militär
- Die Ostdeutschen haben zu DDR-Zeiten einen viel tieferen Eindruck von der militärischen Stärke der Sowjetunion gewonnen als die allgemeine westdeutsche Bevölkerung. Die pragmatische Einschätzung, ob ein Land wie die Ukraine mit 40 Millionen EinwohnerInnen ohne große militärische Tradition einer Atommacht mit 140 Millionen EinwohnerInnen und einer erfahrenen Militärmaschinerie auch mit westlicher Hilfe langfristig widerstehen kann, ist oft negativ. Vielmehr wird kritisch gesehen, dass den UkrainerInnen von vielen PolitikerInnen und Medien vermittelt wird, sie könnten den Krieg gewinnen.
- Viele NVA-Offiziere, die heute Mitte 70 sind, wurden noch in der Sowjetunion ausgebildet. Sie können die militärische Lage in der Ukraine gut einschätzen, werden aber von den Medien nicht wirklich berücksichtigt. Dort dominieren ehemalige oder aktive NATO-Offiziere das Meinungsbild. Die ehemaligen NVA-Offiziere agieren aber noch im informellen Raum, treffen sich z.B. noch privat. (Zitat: „Die Ossis kennen die Lage besser!“).
- Die Angst vor einer Eskalation des Krieges zu einem Atomkrieg ist in Ostdeutschland sehr verbreitet, weil man hier die Macht der russischen Atomstreitkräfte konkreter kennt.
www.antisla stellt diese Erkenntnisse gerne frei zur Verfügung. Es wäre aber schön, wenn Sie uns als Quelle anführen würden.
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