Von Gute-Nacht-Geschichten bis zu Panzerparaden (Teil I und II)

Anna Vilkova, geboren in St. Petersburg und aktuell Studentin in Berlin, spricht über ihr Verhältnis zur russischen Geschichte und zur Erinnerungskultur im heutigen Russland.

Der sehr persönliche Bericht besteht aus zwei Teilen. Heute veröffentlichen wir den gesamten Text.

Früher wurde mir auf die Frage, warum man Geschichte lernen muss, geantwortet: dafür, dass  sie sich nicht wiederholt.

Die Erinnerung an den  Zweiten Weltkrieg ist in Russland immer präsent. Als Kind habe ich das am meisten gespürt, später veränderte sich die Wahrnehmung. Erinnerung war nicht mehr etwas Selbstverständliches, etwas Natürliches und Aufrichtiges, sondern wurde zu etwas Geschuldetem, einer Aufgabe, die mehrmals im Jahr erledigt werden muss. Meine Großmutter, die als Kind die Blockade Leningrads überlebte, erzählte mir immer Geschichten über den Krieg, wenn sie mich ins Bett brachte. Ihr Hauptargument war: „Es ist wahr.“ Das ist wahr und das bedeutet, dass Sie es wissen müssen. Ich mochte es nicht, ich hatte immer Angst, dass sie in einer der Geschichten nicht überleben würde. Krieg passierte, als meine Großmutter 10 war. Es war eigentlich ein kleiner Teil ihres Lebens, aber sie redete immer darüber. Diese vier Kriegsjahre hatten so einen großen Einfluss auf sie, sie wurden zu einem Teil ihres Menschwerdens. Sie war für mich ein Symbol dieses Schmerzes und ich hatte Angst vor ihr. Ich bat meinen Großvater immer, mich ins Bett zu bringen.

Diese Geschichten gibt es in jeder russischen Familie. Dieser Abdruck bleibt erhalten. Durchgehend kann man den Krieg fühlen – in Liedern, in Schildern auf der Straße, in erhaltenen Luftschutzbunkern in Höfen. Es ist ein Teil Russlands geworden, ohne den dieses Land nicht vorstellbar ist. Dieses Gefühl entsteht teilweise natürlich und wurde teilweise mit Absicht geschafft. Die Grenze dazwischen ist sehr dünn. In Russland wird normalerweise zweimal im Jahr an den Zweiten Weltkrieg erinnert, am 9. Mai und in Sankt Petersburg, ehemals Leningrad, am 27. Januar. Und zwar im riesigen Ausmaß. Zu dieser Zeit erinnert sich der Staat plötzlich an den Krieg. Veteranen fangen an, Geschenke und Briefe zu bekommen. In der restlichen Zeit leben Menschen, die den Krieg überlebt haben, unter schrecklichen Bedingungen, mit sehr niedrigen Renten und können kein normales Leben führen. Menschen schätzen die kleinsten Dinge, wenn an sie so selten erinnert und sich um sie gekümmert wird. Meine Großmutter konnte sich weder gutes Essen noch die Renovierung ihrer Wohnung leisten, aber sie zeigte allen stolz Briefe, die angeblich von Putin unterzeichnet waren.

An jedem Siegesfeiertag zogen Kinder in der Schule Militäruniformen an, gaben Konzerte, schrieben Aufsätze, schauten Wochenschauen und hörten Veteranen zu. Es rief alles unterschiedliche Gefühle hervor. Manchmal Gleichgültigkeit, da niemand darüber nachdenken wollte. Manchmal ein gemischtes Gefühl aus Angst und Interesse. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht über den Krieg nachdenken darf, weil ich mir nicht einmal vorstellen konnte, was dort wirklich passierte. Als ich in der dritten Klasse war, riefen am Ende des Konzerts alle: „Und es wird keinen Krieg mehr geben.“ Es kam mir seltsam vor, denn wie könnte es wieder zu einem Krieg kommen?

Teil II

Am 9. Mai, einige Jahre später, steht im Garten meiner Schule alte militärische Ausrüstung. Wir lernen das Laden der damaligen Waffen von Soldaten und essen Brei aus einer Feldküche. In der Stadt gibt es auch Dekorationen und Effekte, die die Atmosphäre der belagerten Leningrads wiedergeben. Ein Versuch, alles bis ins kleinste Detail so zu wiederholen, wie es damals war. Damals im Garten kam mir das alles völlig normal vor.

Wieder am 9. Mai: Eltern ziehen ihre Kinder wieder in Form der Soldaten. Dieser Kontrast der Erinnerung: Paraden moderner Ausrüstung und Regimenter, bei denen Veteranen Porträts gefallener Verwandter tragen. Ich frage mich zum ersten Mal: ​​Wie kann dieses Land sagen, dass es den Faschismus überwunden hat? Ein Land, wo Rassismus, Homophobie und vermeintlich ruhmreiche Ideen über die Stellung einer Supermacht vorherrschen?

Jeder und jede behält diese Erinnerung unterschiedlich. Jeder und jede sieht und feiert diesen Sieg unterschiedlich. Was mir Angst macht, ist, dass dieser Schmerz Teil der aktuellen Propagandamaschinerie geworden ist. Gemeinsame Trauer vereint die Menschen, gemeinsamer Sieg verursacht gemeinsamen Stolz. Sie selbst haben nichts beigetragen, aber Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, Teil einer großen Tat zu werden. Manchmal sagen Leute, dass das Wichtigste, was Putin während seiner Herrschaft getan habe, sei der Sieg im Zweiten Weltkrieg gewesen, da er darüber so viel redet.

Es ist nur der Sieg, der gefeiert wird, die Leistung Russlands. Man spricht eigentlich nur darüber. Ich selbst war mir fast mein ganzes Leben lang sicher, dass der Krieg 1941 begann. Das Bild dieses Sieges wurde völlig verzerrt und an den Sprachgebrauch der aktuellen   Regierung angepasst. Krieg wird bei jeder dazu geeigneten  Gelegenheit eingesetzt und gerät allzu leicht in Vergessenheit, wenn man ihn nicht braucht.

So bei den Protesten im Februar 2022. Damals wurde  eine ältere Frau, die die Belagerung von Leningrad im Zweiten Weltkrieg überlebt hatte, von der Polizei gefangen genommen, da sie öffentlich gegen den Krieg in der Ukraine demonstrierte. In Russland ist es verboten, diesen Krieg einen Krieg zu nennen, um keine unerwünschten  Assoziationen hervorzurufen.

Vor einem Monat, am 24. Februar, sah ich in der Nähe des Bundestags russische Flaggen und St.-Georgs-Bänder. Es war ein Protest von Menschen, die den Krieg unterstützten. Mit Plakaten über die Entnazifizierung Deutschlands sangen sie das Lied „Heiliger Krieg“. Dieses Lied wurde während des Zweiten Weltkriegs jeden Tag im Radio gespielt, um die Stimmung aufrechtzuerhalten. Als Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine wurde natürlich das Thema des Nationalsozialismus gewählt. Eine sehr klare und eindeutige Geschichte, die bei jedem Anklang findet und die jeder kennt. Kein anderes Thema, welches die russische Regierung wählen würde, konnte eine so heftige Reaktion hervorrufen.

Die Erinnerung bleibt erhalten, aber völlig verzerrt und verändert. Niemand spricht über die „hässlichen“ Seiten des Krieges und dieses Sieges. Über Tausende von nach dem Zweiten Krieg vertriebenen Menschen mit Behinderungen, über von Soldaten vergewaltigte Frauen und vieles mehr. Niemand spricht über andere Kriege, über den Krieg in Georgien und Tschetschenien. Sie waren auch schrecklich und auch dort starben Menschen, aber wahrscheinlich ist das Bild Russlands dabei nicht so schön. Das ist keine Erinnerungskultur, sondern eine Kultur der Heuchelei. Ab und zu gibt es in Russland Autos mit Aufklebern mit der Aufschrift: „Wir können den Sieg wiederholen!“. Am Siegesfeiertag marschieren durch die Städte moderne Panzer und fliegen Militärflugzeuge. In diesen Momente feiert man keinen Sieg über den Tod, sondern den Tod selbst.

In Russland, einem Land der Gegensätze, existieren so unterschiedliche Vorstellungen über den Krieg. Das Gedächtnis wurde aufgeteilt in persönlichen und öffentlichen Schmerz. Der öffentliche Schmerz verliert sein Gesicht. Hinter all den Slogans, Lametta und Propaganda wurde der eigentliche Sinn weggespült. Eine Beleidigung des tatsächlichen Gedächtnisses. Von der echten Erinnerung ist scheinbar nichts mehr übrig geblieben. Von der echten Erinnerung, die verbietet, Brot wegzuwerfen, von der echten Erinnerung, dass ältere menschen unter normalen Bedingung leben können, aus deren Erfahrung ältere Menschen unter normalen Bedingungen leben müssen, in der, Krieg nicht als Grund für Heldentum, sondern als Grund für Horror gilt, in der Frieden und menschliches Leben geschätzt werden. Das gibt es scheinbar nicht mehr. Was gerade in Russland passiert, zeigt, dass wir trotz aller Lieder, Geschichten und Feiertagen nichts gelernt haben und sich die Geschichte doch wiederholt.

 

Bild: Standphoto eines Videos aufgenommen in Irkutsk im März 2012 |Quelle = eigene Aufnahme |Urheber = glypho45 |Datum = März 2012 |