„Nach all diesen Ereignissen, allem, was ich erlebt und gesehen habe, war ich emotional zerstört.“

Anlässlich des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022: Gespräch mit Sofiia, einer Studentin aus Kiew, über ihre Flucht aus der Ukraine: Teil 2

www.antisla veröffentlicht in zwei Teilen ein Gespräch mit der ukrainischen Studentin Sofiia. Der Text erscheint unredigiert. Sie schildert ihre Erlebnisse zu Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Das Interview wurde für uns geführt von der St. Petersburgerin Anna Villkova.

Teil 1 erschien gestern, Teil 2 heute am 24.2.2024.

 

„Wir sind in Lwiw angekommen. Da war die Situation aber nicht viel leichter. Es gab auch Explosionen und wir hatten keinen Platz, wo wir leben konnten. Wir sind weiter nach Truskawez gefahren, eine Stadt zwei Stunden weit weg von Lwiw. Wir haben eine kleine Einzimmerwohnung gefunden und haben dort zu sechst drei Wochen lang gelebt. Es war sehr schwierig, da wir alle sehr großen Stress hatten, es könnte jede Zeit etwas passieren. Wir haben viel gestritten. Ich wusste nicht, was in meiner Stadt passiert. Ich hatte gar keine Sachen mit, bis auf einen Sportanzug und meinen Ausweis. Ich war an meiner emotionalen Grenze, ich konnte nicht mehr.

Meine Cousine, die in Berlin lebt, hat mir geschrieben und angeboten, dass ich bei ihr leben kann. Das war eine sehr schwierige Entscheidung, da ich meine Familie verlassen und allein in einem anderen Land leben sollte. Meine Mutter wollte mich nicht allein gehen lassen, da es bekannt war, dass es an der Grenze Zuhälter gibt, die Frauen für Sexarbeit ausgebeutet haben.

Meine Brüder und mein Vater konnten das Land selbstverständlich nicht verlassen. Ich bin zu zweit mit meiner Mutter nach Polen gefahren. An der Grenze war die Situation sehr schlecht. Es gab da eine wahnsinnige Menge von Menschen, die tagelang warten mussten. Wir haben einen Mann dafür bezahlt, dass er uns zur Grenze bringt. Mit dem Geld war es auch sehr problematisch, da die Bankautomaten leer waren, und Bankkarten haben nicht funktioniert. Man konnte fast nur mit Bargeld bezahlen, und meine Eltern haben die meisten Ersparnisse in Kiew gelassen.

Die Grenze sollten wir zu Fuß überschreiten. Es war super kalt, ich denke ungefähr minus 10 Grad. Wir warteten die ganze Nacht lang mit Schnee und Wind. Es gab ukrainische Freiwillige, aber sie konnten natürlich nicht allen helfen. Ich bin krank geworden, ich hatte Fieber. In dieser Zeit habe ich auch nichts gegessen. Ich hatte Angst, dass wir das nicht überstehen werden.

Als wir in Polen waren, haben wir Hilfe, Essen und Kleidung bekommen. Ich war so dankbar dafür. Dann haben wir Warschau erreicht. Der Bahnhof war voll. Wir sollten dort die Nacht verbringen, da man keine Unterkunft finden konnte. Es war auch sehr schwierig. Ich habe mehrere Nächte nicht normal geschlafen und mich geduscht. Ich begann sehr stark zu weinen, da ich verstanden habe, dass es der Anfang von einem neuen Leben war, und ich wusste nicht, was kommt. Vielleicht werde ich nie zurück in die Ukraine fahren und dort wieder leben.

Am nächsten Morgen sind wir nach Berlin gefahren. Meine ersten Monate hier waren sehr schwierig. Ich hatte so wenig Geld, dass ich mich nicht mit Lebensmitteln versorgen konnte und jeden Tag zum Bahnhof gefahren bin, um dort Essen zu bekommen. Dazu sollte ich die ganzen Probleme mit Anmeldung, Wohnungssuche usw. lösen. Es war für mich sehr stressig, ich war sehr oft krank und habe viel abgenommen. Ich war sehr erschöpft.

Während meines Lebens in Deutschland bin ich mehrere Male von Diskriminierung betroffen gewesen. Einmal bin ich mit einer Freundin von mir in einem Zug gefahren. Wir haben Ukrainisch gesprochen, und zwei Frauen – ich weiß nicht genau, woher sie kamen – aber sie haben uns auf russisch angeschrien. Sie sagten, wir seien diese ukrainischen Schlampen, die hierher gekommen seien, um mit deutschen Männern zu schlafen und das deutsche Geld zu nutzen. Es war ekelhaft. Es war so beleidigend. Wir waren schockiert, wussten nicht, was wir tun könnten. Sie sind dann einfach weggerannt.

Eine ähnliche Geschichte passierte mir, als ich spätabends in der U-Bahn gefahren bin. Ich habe eine ukrainische Flagge auf meinem Handybildschirm. Es ist für mich eine Art von Unterstützung und Erinnerung daran, was gerade in meinem Land passiert. Ein Mann hat das gesehen und ist zu mir gegangen. Er hat mich auch auf russisch angeschrien und gesagt, dass ich in seinem Land, in Deutschland, nicht willkommen bin. Ich habe gesagt, dass ich die Polizei rufen werde, und dann hat er mich in Ruhe gelassen.

Nach all diesen Ereignissen, allem, was ich erlebt und gesehen habe, war ich emotional zerstört. Ich dachte, ich werde nie wieder normal leben und nie wieder ein normaler Mensch sein. Ich lebe heutzutage immer noch in Angst, da ich immer noch nicht weiß, was passieren wird. Niemand ist in der Sicherheit. Viele meiner Freunde und meine Familie leben immer noch in der Ukraine und jeden Tag, wenn ich aufstehe, weiß ich nicht, ob sie noch leben.

Ich versuche trotzdem in dieser Situation auch gute Seiten zu sehen. Ein Vorteil, den ich nur mit der Zeit verstanden habe, ist die Tatsache, dass ich seit dem Anfang des Kriegs sehr erwachsen geworden bin. Ich habe gesehen, wie einfühlend und hilfsbereit Menschen sein können. Ich und meine Familie haben überlebt, und ich habe noch nie so sehr wie jetzt mein Leben wertgeschätzt. Ich wusste vorher nicht, dass ich so glücklich sein werde, einfach weil ich die Möglichkeit habe, gesund zu sein, zu essen, mit meinen Eltern zu sprechen und einfach zu leben.“

Teil 1 des Gesprächs unter: https://antisla.de/jedes-mal-als-ich-sie-gehoert-habe-dachte-ich-dass-ich-schon-tot-bin/